Nachhaltigkeit und soziale Ungleichheit

Es ist nicht so lange her, dass auch ein einfacher Angestellter es zu kleinem Wohlstand bringen und sich oft sogar ein Eigenheim leisten konnte. Heute ist das undenkbar. Immer mehr Menschen kommen trotz Arbeit kaum mehr über die Runden. Warum ist das so und was muss dagegen unternommen werden? Ist Nachhaltigkeit ohne soziale Gerechtigkeit möglich? Dazu hat der Journalist Heinrich Schwazer (Neue Südtiroler Tageszeitung) ein Gespräch mit mir geführt.

HS: Herr Brocchi, von Nachhaltigkeit spricht man meist in Zusammenhang mit der Klimakrise und denkt dabei an Ökostrom und Energiesparen. Was versteht man unter sozialer Nachhaltigkeit?

DB: Soziale Nachhaltigkeit ist im Wesentlichen mit der Frage verbunden, wie ein friedliches Zusammenleben in der Vielfalt auf einem physisch begrenzten Planeten möglich ist. Durch Kooperation funktioniert es vermutlich besser als durch freien Wettbewerb. Weil es kein gutes Leben auf Kosten anderer geben kann, brauchen wir eine erweiterte Demokratie, die auch diese anderen mitbestimmen lässt: den globalen Süden, die benachteiligten Gruppen, die künftigen Generationen und die Natur. Sie zahlen nämlich einen sehr hohen Preis für das, was manchenorts »Wachstum«, »Fortschritt« oder »Wohlstand« genannt wird.

Ohne soziale Gerechtigkeit kann es keine Nachhaltigkeit geben, lautet Ihre Überzeugung. Erklären Sie uns das bitte.

Die soziale Ungleichheit ist die Sortiermaschine, die bestimmt, wer von der Entwicklung profitiert und wer den Preis dafür zahlt. Es gibt keinen Massenkonsum ohne Ausbeutung, keinen Reichtum ohne Armut und keine Macht ohne Ohnmacht. Wer die Benachteiligung wirklich überwinden will, muss die Privilegien infrage stellen, anders geht es nicht. Laut Oxfam verursachen die reichsten 10 Prozent die Hälfte der weltweiten CO2-Emissionen, während unter dem Klimawandel vor allem den ärmeren Teil der Weltbevölkerung leidet. Warum sollten die Eliten auf ihre Privilegien verzichten, wenn sie mehr politischen Einfluss haben und kaum mit den Kosten ihres Handelns konfrontiert werden? Wenn diejenigen, die die ökologischen und sozialen Kosten verursachen, dafür haften müssten, dann würde vieles in unserer Gesellschaft ganz anders aussehen. 

Soziale und ökologische Belange werden häufig gegeneinander ausgespielt. Autos sind schlecht für die Umwelt, aber der Mercedes-Arbeiter will seinen Arbeitsplatz behalten. Zahlen die Arbeiter den Preis für die Nachhaltigkeit?

Die Frage ist, worum es dem Mercedes-Arbeiter geht: Um das Auto oder um einen sicheren Lohn? Jeder Mensch hat ein Recht auf Grundversorgung, doch dabei sollte die Arbeit dem Gemeinwohl dienen und nicht auf Kosten anderer gehen. Soziale und ökologische Belange werden meistens dort gegeneinander ausgespielt, wo ein ideologischer Rahmen nicht infrage gestellt wird. Mit der neoliberalen Globalisierung ist die Marktwirtschaft zum universalen Modell erhoben worden. Diese ökonomische »Alternativlosigkeit« hat uns in den letzten Jahrzehnten eine Polykrise beschert. Wenn soziale und ökologische Belange Opfer derselben Entwicklungslogik sind, dann braucht es ihre Allianz, um diese Logik zu überwinden. Warum müssen wir immer weiterwachsen, wenn gerecht umverteilt und mehr miteinander geteilt werden kann?

Reiche Leute kaufen öko ein und fahren Elektroautos, weil sie es sich leisten können, während der Arbeiter mit einem schmutzigen Diesel herumfährt und sich als Umweltsünder beschimpfen lassen muss. Wer Geld hat, kann nachhaltig leben, der arme Rest muss um seine Jobs fürchten. Verschärft die Klimakrise die soziale Ungleichheit? 

Die soziale Ungleichheit ist eine wesentliche Ursache der Klimakrise und wird gleichzeitig durch die Klimakrise verschärft. Denn dort, wo soziale Ungleichheit herrscht, werden Probleme selten an der Wurzel gelöst, meistens werden diese nur verlagert. Während alte Dieselfahrzeuge nach Osteuropa und Afrika entsorgt werden, beansprucht heute die Autoindustrie Lithium- und Kobaltvorkommen in Bolivien und Kongo, um »saubere« Elektrofahrzeuge zu produzieren und zu verkaufen.
Eine große Transformation zur Nachhaltigkeit bedeutet nicht nur das Ersetzen alter Energieträger und Produkte durch neue, sondern mehr öffentliche Daseinsvorsorge statt Privatvorsorge. Dies sollte durch eine strukturelle Umverteilung des Reichtums und die Schließung der Steuerparadiese finanziert werden. Von einer starken sozialen Grundsicherung profitieren alle, denn keiner muss dann Angst vor dem sozialen Abstieg haben. Eine starke ÖPNV-Infrastruktur ist preiswerter und ökologischer als der private Autobesitz (viele Fahrzeuge sind sowieso vor allem Stehzeuge). Da, wo mehr geteilt wird, ist das Wohlbefinden höher und der Naturverbrauch niedriger.

Soziale Ungleichheit ist nicht nachhaltig, aber es gibt sie und man hat den fatalen Eindruck wie in der Finanzkrise: Die Profite werden privatisiert, die Kosten sozialisiert.

Genauso ist das. Obwohl die Finanzkrise 2008 enorme Kosten für die Steuerzahler hatte, hat es bisher keine Regierung gewagt, die Finanzmärkte ernsthaft zu regulieren, ganz anders als nach der Finanzkrise von 1929 in den USA mit dem New Deal. So sind die Menschen noch heute Opfer von Spekulationen, weitere Finanzkrisen sind nicht ausgeschlossen. Im Westen leidet die Demokratie unter einer Diktatur des Marktes. Für die ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit benötigen wir deshalb eine Demokratisierung der Demokratie.

Wenn Nachhaltigkeit bei wachsender sozialer Ungleichheit nicht zu erreichen ist, muss die Frage nach gerechter Umverteilung gestellt werden. Die Politik zeigt aber wenig Lust, die Privilegien der Reichen infrage zu stellen. Lässt sich das eine ohne das andere ändern? Was tun?

Die neoliberale Globalisierung ist das Ergebnis des Schulterschlusses zwischen einer politischen Elite (G7) und einer ökonomischen Elite (insbesondere Hochfinanz). Durch die Liberalisierung der Märkte ist auch die Demokratie erpressbar geworden. In Berlin gehört inzwischen fast die Hälfte der Wohnungen Multimillionären, die Mieten sind in den letzten 15 Jahren enorm gestiegen. Bei einem Volksentscheid im September 2021 sprach sich deshalb fast 60 Prozent der Berliner:innen für die Enteignung und Vergesellschaftung aller Wohnungsbestände von Unternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen aus. Doch die meisten Parteien weigern sich bis heute diesen Schritt umzusetzen. Unsere Gesellschaft erlaubt die Enteignung des globalen Südens und der unteren Schichten, doch eine Enteignung von Großkonzernen bleibt tabu. Auch deshalb brauchen wir eine Selbstermächtigung der Bürger:innen und neue Allianzen an der Basis der Gesellschaft, um die Transformation zur Nachhaltigkeit voranzutreiben und die Rahmenbedingungen zu ändern. 

© Dr. Davide Brocchi, 2023

 

 

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