Die Kunst der Transformation in ländlichen Regionen

In Deutschland gelten ländliche Regionen als künstlerisch- und kulturell »unterversorgt«. Mit neuen Förderprogrammen will die Kulturpolitik so Künstler:innen einladen, »raus ins Land« zu gehen. Daran beteiligt ist unter anderem das NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste, das 2022 mehrere »Tiny Residencies« vergeben hat. Im Dezember kamen die geförderten Künstler:innen in Dortmund zusammen, um ihre Erfahrungen in ländlichen Räumen zu reflektieren. Bei der Veranstaltung durfte ich einen Impulsvortrag halten. Hier ist der Text, der in der Dokumentation zum Programm veröffentlicht worden ist.

Seit Jahrzehnten lautet die Aufforderung der Zentren an die Peripherien, der Städte an die ländlichen Regionen: »Modernisiert euch!« (Latour 2021). Die Modernisierung ist das Entwicklungsmodell, das im Westen seit den 1950ern dominiert und sich ab den 1990ern globalisiert hat. Darin drückt sich eine ethnozentrische Auffassung der menschlichen Geschichte aus, als linearer Prozess von unten nach oben: vom Naturzustand, über die Agrar- und Industriegesellschaft bis zur Dienstleistungs- und Massenkonsumgesellschaft (Rostow 1960). Als Synonym von Fortschritt meint Modernisierung die progressive Abgrenzung zur äußeren und zur inneren Natur. Als Synonym von Rationalisierung zielt sie auf die Beherrschung der Lebendigkeit durch die Vernunft (»Wisdom is power«).

Die Moderne wird als Schicksal der Menschheit begriffen. So kann es zur Marktwirtschaft oder zur Digitalisierung keine »vernünftige« Alternative geben: Sie können nur hingenommen werden. Da sich der Westen und seine Zentren als höchstes Stadium der Entwicklung sehen, entspricht die Moderne einer Selbstzuschreibung. Als Gegenbegriff zur Moderne gilt »Tradition«. Dabei wird Andersartigkeit als Defizit und Mangel betrachtet. Tradition ist Ausdruck einer »kulturellen Rückständigkeit« im Vergleich zum modernen Vorbild. Wenn ländliche Regionen ökonomisch kaum wachsen, dann deshalb, weil sie an ihren Traditionen festhalten (Rieger und Leibfried 2004, S. 13). Zur Überwindung der kulturellen Wachstumsbremsen dient eine »Entwicklungshilfe« von außen bzw. von oben. So wird in Afrika der Bau von Schulen gefördert, um die geistige Verwestlichung der Kinder zu ermöglichen. Sie müssen den Umgang mit Computern lernen, um am Weltmarkt teilzuhaben. In ländlichen Räumen materialisiert sich diese Entwicklungspolitik, indem alte Bausubstanz durch eine sterile Architektur, die Wochenmärkte durch Einkaufszentren und die unentgeltliche Solidarität durch monetarisierte Verhältnisse ersetzt werden. Jede Modernisierung führt so zu einer progressiven Entwurzelung und Standardisierung der Lebensweisen. Städte und Dörfer werden austauschbarer und verlieren dabei ihre Seele. Trotzdem orientieren sich ländliche Regionen immer noch am gleichen Entwicklungsmodell, das sie zu Verlierern gemacht hat. Die Monokultur ist auch eine geistige (Shiva 1998).

Städte und Dörfer werden austauschbarer und verlieren dabei ihre Seele. Die Monokultur ist auch eine geistige.

Von den beschriebenen Widersprüchen ist selbst die Kulturpolitik nicht frei. Gerade in sozial benachteiligten Regionen lässt sie sich für die Modernisierung leicht funktionalisieren. Hier gelten Kunst und Kultur als Luxus, den man sich leisten muss. Förderwürdig sind sie vor allem dann, wenn sie einen Nutzen vorweisen: zum Standortwettbewerb dienen, das Wirtschaftswachstum ankurbeln, Tourist:innen anziehen und unterhalten. Wenn ländlichen Räumen ein Mangel an Kunst und Kultur diagnostiziert wird, dann ist es dabei die urbane Hochkultur, die sich zum Maßstab erhebt. Welche Therapie wird also gegen die »kulturelle Rückständigkeit« der Peripherien verfolgt? Eine wurde von Richard Florida konzipiert. Für den US-Ökonomen bildet heute nicht mehr die Dienstleistungs- und Massenkonsumgesellschaft das höchste Stadium der menschlichen Entwicklung, sondern die kreative Gesellschaft. Um eine neue Entwicklungsdynamik in den Peripherien zu fördern, sollten also keine Einkaufszentren gebaut, sondern die »creative class« und ihr Einzug unterstützt werden (Florida 2002, 2005).

Fallbeispiel: Kunstprojekt »2-3 Straßen/Ruhr.2010«

An diesem Ansatz orientierte sich der Konzeptkünstler Jochen Gerz mit seinem Kunstprojekt »2-3 Straßen«, eines der größten im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr.2010. Dabei zogen 78 Kreative, Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt in drei Straßen ein, jeweils in Duisburg, Mülheim an der Ruhr und Dortmund. Diese Straßen waren gleichzeitig Objekt und Ort einer Ausstellung, in der es nichts anderes zu sehen gab außer den Alltag in einem sozial benachteiligten Quartier. Die Vernissage erfolgte am 1. Januar, die Finissage am 31. Dezember 2010. Dazwischen durften die Besucher:innen die Wirklichkeit urbaner Peripherien mit kunstinteressierten Augen betrachten.

Mit »2-3 Straßen« setzte Jochen Gerz ein ambivalentes Zeichen. Einerseits forderte er die Kunst auf, die »Kulturtempel« zu verlassen und sich mit den Lebenswelten der Menschen auseinanderzusetzen. Wenn sogar eine heruntergekommene Straße in einen Ausstellungsraum umgewandelt werden kann, dann kann jeder Mensch darin zum Künstler / zur Künstlerin werden. Andererseits wurde im Vorfeld des Kunstprojektes ein wesentlicher Schritt versäumt: Keine/r fragte die Bewohner:innen in den Straßen (Sozialhilfe-Empfänger:innen, Menschen mit Migrationshintergrund…), ob sie ein Jahr lang Teil einer Ausstellung sein wollten. Bei »2-3 Straßen« blieben sie so Objekte statt Subjekte der Kunst (Brocchi und Eisele 2011; Grigoleit et al. 2013). Diese Vorgehensweise ist stellvertretend für eine Top-down-Kulturpolitik, die Menschen in den Peripherien als »Kulturanalphabeten« behandelt und ihre kulturelle Missionierung fördert. Gegen diese Fremdbestimmung und Abwertung reagieren die Betroffenen oft mit einer stillen Form des Widerstandes: die Nicht-Partizipation. So feierte im Oktober 2010 die Presse ein besonderes Highlight in Gerz‘ Projekt: »Duisburger Philharmoniker zu Gast in Hochfeld«. In der Straße wurde ein Klassik-Konzert veranstaltet. Dass fast keine einheimischen Bewohner:innen im Publikum zu sehen waren, fiel der Presse nicht auf.

Nachhaltige Kulturpolitik

Wenn Probleme niemals mit derselben Denkweise gelöst werden können, durch die sie entstanden sind (A. Einstein), dann setzt eine nachhaltige Kulturpolitik eine geistige Emanzipation vom Programm der Modernisierung voraus. Nachhaltigkeit wird hier weit verstanden, sprich als Dachbegriff für »Visionen einer anderen Entwicklung« jenseits der Modernisierung (Dag Hammarskjöld Foundation 1975; Tarozzi 1990). In der Nachhaltigkeit geht es einerseits darum, soziale Systeme (ländliche Regionen inbegriffen) krisenresistenter bzw. resilienter zu machen. Andererseits stellt Nachhaltigkeit die Frage nach dem guten Leben. Das erste Prinzip lautet: Kein gutes Leben kann auf Kosten anderer sein, künftige Generationen inbegriffen.

Während die Modernisierung auf einem Separationsdenken basiert und Menschen als Objekte behandelt, fokussiert sich Nachhaltigkeit auf Beziehungen. Um die soziale Benachteiligung ländlicher Regionen zu überwinden, müssen soziale Ungleichheiten und Ausbeutungsverhältnisse hinterfragt werden. Eine Entwicklungspolitik wird auch nach oben benötigt, nicht nur nach unten. So ist die Hochkultur selbst viel abhängiger von Hacke und Pflug als umgekehrt. In den ländlichen Regionen zielt eine nachhaltige Kulturpolitik auf »Self-reliance«[1], Selbstbesinnung und Empowerment. Es gibt keine Menschen ohne Kultur, sondern nur eine kulturelle Vielfalt (UNESCO 1982). So finden Kunst und Kultur auch in ländlichen Regionen statt, jedoch anders. Sie haben zum Beispiel die Form der »Breitenkultur«, das heißt von »gemeinsame[m] kulturelle[m] und künstlerische[m] Tun mit individueller Teilhabe und bürgerschaftlichem Engagement auf einer nicht kommerziellen, sparten- und politikübergreifenden Ebene« (Schneider 2014, S. 9). Auch manche Winzer:innen handeln wie Künstler:innen (mit Wissen, Kreativität und Leidenschaft), wenn sie den Geschmack ihres Weins verfeinern. Aus der Perspektive der urbanen Hochkultur partizipieren die Menschen nur, wenn sie Theater oder Museen besuchen. In Wahrheit sind alle Menschen Gemeinschaftswesen, die also fast immer partizipieren, jedoch an anderen Orten. Um mit ihnen in Beziehung zu treten, braucht es den Perspektivenwechsel: »Wann haben wir an den Ritualen in den Orten der anderen partizipiert?« Nachhaltigkeit ist eine Haltung, die alle Menschen als Subjekte statt als Objekte betrachtet. Dabei reproduziert die Kunst keine Asymmetrien, sondern bietet eine Form des sozialen Ausgleichs. Sie führt keinen Monolog, sondern den Dialog auf Augenhöhe, um bidirektionale Lernprozesse zu ermöglichen. Auch die Rolle des Gestalters ist nicht exklusiv und kann geteilt werden.

Jede Region ist ein Planet für sich

In der Modernisierung wird die Welt nach dem Vorbild von fixen Denkmodellen gestaltet. Dabei wird die Eigenart der Orte problematisiert, missachtet und überspielt, jedoch selten bewahrt. Keine Monokultur kann aber nachhaltig sein. Nur die Vielfalt stärkt die Resilienz sozialer Systeme und fördert ihre Lebendigkeit. Für die Kunst bietet gerade die Eigenart der Orte ein Lernpotenzial. Um davon zu profitieren, muss sie den Ort mit Demut statt mit erhobenem Status betreten. In der explorativen Phase geht es darum, dem unbekannten »Planeten« mit den Augen des Ethnologen zu begegnen, möglichst unvoreingenommen und vorurteilsfrei. Um sich zu orientieren, ist der/die Künstler:in auf das Wissen der Bewohner:innen angewiesen: Sie sind die Alltagsexpert:innen und werden entsprechend wertgeschätzt. Zur Wissensaneignung dienen persönliche Gespräche mit den formellen und informellen Multiplikator:innen (Bürgermeister:in, Pastorin:in, Lehrer:in…) sowie mit den Nachbar:innen. Je größer die Bandbreite der Perspektiven ist, desto genauer die erstellte mentale Landkarte des neuen Planeten.

In dieser Explorationsphase kann die besondere »Sprache« der Bewohner:innen gelernt werden: eine wichtige Voraussetzung, um sie zu erreichen. So kann sich herausstellen, dass Begriffe wie »Kunst« oder »Workshop« exklusiv wirken und verbale Alternativen sinnvoller sind. Zudem ist das persönliche Gespräch eine effektive Strategie, um Vertrauen zu den lokalen Akteur:innen aufzubauen. Nach der Explorationsphase können einige von ihnen als Partner:innen und Berater:innen gewonnen werden. Als solche sollen sie den Prozess und die künstlerischen Möglichkeitsräume mitkonzipieren. Die Kunst ist auf Türöffner, Brückenbauer und Übersetzer angewiesen, um einen Zugang zu der Eigenart der Orte zu finden. Eine Einladung zu einem Format ist effektiver, wenn sie von Akteur:innen getragen wird, die vor Ort Vertrauen genießen.

Künstlerische Arbeit als interkulturelle Praxis

Die künstlerische Arbeit in ländlichen Regionen muss so als interkulturelle Praxis begriffen und gestaltet werden. Es geht nicht darum, das Alte durch das Neue zu ersetzen, sondern um eine Praxis der Kompositionen und der Arrangements. Die Idee wird nicht im Voraus bestimmt und durch einen Förderantrag vorgegeben, sondern ergibt sich im partizipativen Prozess. Schon durch diese Vorgehensweise werden Beziehungen vor Ort gestärkt und verändert. Ländliche Regionen bieten die Chance, Kultur und Natur sowie Individuum und Gemeinschaft zusammen statt getrennt zu denken. Ein gutes Leben geht nicht auf Kosten anderer, wenn seine Definition und Gestaltung möglichst demokratisch und inklusiv erfolgt. Ein friedliches Zusammenleben in der Vielfalt setzt jedoch eine erweiterte Agora voraus, in der menschliche und nichtmenschliche Wesen als Subjekte einen Platz bekommen (Latour 2015). Wie können die Erde, die Bäume oder die innere Natur Gehör finden und als Verbundene wahrgenommen werden? Während in der Modernisierung eine neoliberale Auffassung von Freiheit herrscht, die die Künste vom Kontext »entbettet«, geht es in der Nachhaltigkeit um eine Wiedereinbettung (vgl. Polanyi 1978). Die künstlerische Freiheit sollte innerhalb der ökologischen und sozialen Verhältnisse gedacht werden statt außerhalb.

© Dr. Davide Brocchi, 10.5.2023. Der Text ist 2023 in »Tiny Residencies. Dokumentation und Auswertung des Förderprogramms des NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste« erschienen. 

 

Literatur
  • Brocchi, Davide; Eisele, Marion (2011): Die Ausstellung »2-3 Straßen«. Bericht zur sozialwissenschaftlichen Begleitstudie. Düsseldorf: Institut für Kunstgeschichte der HHU. 
  • Dag Hammarskjöld Foundation (1975): What Now? Another Development. Uppsala: Dag Hammarskjöld Foundation.
  • Florida, Richard (2002): The Rise of the Creative Class. And How It‘s Transforming Work, Leisure and Everyday Life. New York: Basic Books.
  • Florida, Richard (2005): Cities and the Creative Class. London: Routledge.
  • Grigoleit, Annette; Hahn, Julia; Brocchi, Davide (2013): »And in the end my street will not be the same«. The art project 2–3 Streets and its link to (un)sustainability, creative urban development and modernization. In: City, Culture and Society Vol. 4(3)/2017. S. 173-185.
  • Latour, Bruno (2015): Das Parlament der Dinge. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
  • Latour, Bruno (2021): Das Ende der Moderne. Aus der Reihe »Gespräche mit Bruno Latour«, Teil 2, ARTE 2021.
  • Polanyi, Karl (1978): The great Transformation. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
  • Rostow, W. Whitman (1960): The stages of economic growth: a non-communist manifesto. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Rieger, Elmar; Leibfried, Stephan (2004): Kultur versus Globalisierung. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
  • Schneider, Wolfgang (Hrsg.) (2014): Weißbuch Breitenkultur. Hildesheim: Universitätsverlag.
  • Shiva, Vandana (1998): Monocultures of the mind. London: Zed Books.
  • Tarozzi, Alberto (1990): Visioni di uno sviluppo diverso. Torino: Gruppo Abele.
  • UNESCO (1982): Erklärung von MexikoCity über Kulturpolitik. Weltkonferenz über Kulturpolitik. Paris: UNESCO.
Links
Fußnoten

[1] Der Begriff wurde 1975 von der Dag Hammarskjöld Foundation verwendet und meint eine endogene Entwicklung (aus dem Inneren heraus), basierend auf den eigenen Kräften (Tarozzi 1990, S. 45).

 

 


Bild: Illustration von  Christoph Köster aus der Dokumentation zum Programm des NRW Landesbüros Freie Darstellende Künste, 2023

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