By disaster or by design?

In der großen Transformation befinden wir uns bereits, die noch offene Frage ist, wie diese stattfinden wird: Auf eine für uns Menschen sehr unangenehme Art und Weise oder durch einen Systemwechsel, der durch kollektive Selbstermächtigung und neue Allianzen erzeugt wird? Die Fragen in diesem Interview stellte Valentina Gianera (salto.bz).

Wo sehen Sie die Knotenpunkte mit ihrer eigenen Forschungsarbeit?

Die Debatte über Transformation und Nachhaltigkeit fokussiert sich meistens auf technologische Innovation, Elektroautos und Windräder. Doch zwei andere Dimensionen sind für mich viel entscheidender: die soziale und die kulturelle. Wie wollen wir friedlich zusammenleben – auf einem biophysisch begrenzten Planeten genauso wie in den Städten? Warum müssen wir immer weiterwachsen, wenn wir auch gerechter umverteilen und mehr miteinander teilen könnten? Das ist, was mich interessiert.

Können Sie hier ein Beispiel nennen, um Erkenntnisse auf ganz konkrete Situationen herunterzubrechen?

Nachhaltigkeit setzt mehr Gemeinwesen statt Privatwesen voraus. Wir benötigen heute eine Demokratisierung der Demokratie. Wir sollten die Lösung unserer Probleme nicht mehr allein von den Institutionen erwarten. Nach 27 UN-Klimakonferenzen und mehreren Regierungswechseln klaffen die politischen Versprechen und die tatsächliche Entwicklung immer noch weit auseinander, deshalb sollten wir uns langsam zur großen Transformation selbst ermächtigen. Es braucht neue Allianzen in den Städten und in den Regionen. Nachhaltigkeit bedeutet für mich nicht, die Menschen von oben herab zu belehren und mit moralischen Vorgaben zu konfrontieren, sondern die Menschen als Bürger:innen zu aktivieren, sodass sie die gesellschaftliche Entwicklung mitbestimmen und mitgestalten können. Immer mehr Menschen merken selbst, dass etwas in unserer Gesellschaft nicht stimmt, und sehnen sich nach Veränderung. Ich versuche im Lokalen Räume zu öffnen, in denen die private Frustration in kollektive Kreativität und Macht umgewandelt werden kann. Ich möchte Nachbarschaftsarbeit als Demokratiearbeit fördern. Selbst Bibliotheken und Kirchen können in erweiterte Agoren umgewandelt werden, in denen nicht nur Frauen, Kinder und Menschen mit Migrationshintergrund einen Platz haben, sondern auch die Natur als politisches Subjekt (Latour 2015).

Sie plädieren für einen kulturellen Wandel. Von welcher Kultur gehen Sie aus? Wo muss dieser kulturelle Wandel ansetzen? Welche Institutionen müssen aufgebrochen werden?

Ein Beispiel: Warum soll der freie Wettbewerb besser sein als die freie Kooperation? Warum treten öffentliche Verwaltungen als Ordnungshüter und nicht als Ermöglicher auf? Warum sollen Immobilieninvestoren besser sein als Wohnungsgenossenschaften?

In der westlichen Kultur herrscht leider ein sehr pessimistisches, misstrauisches Menschenbild. So baut das Modell der Marktwirtschaft auf dem egoistischen »Homo oeconomicus« auf, der nur den Eigennutzen maximieren will. Wir werden jedoch nicht als »Homo oeconomicus« geboren, sondern zu einem solchen erzogen. Genauso baut die moderne Staatstheorie auf dem »Leviathan« von Thomas Hobbes auf: Wenn Freiheit und Selbstorganisation mit Anarchie gleichgesetzt werden, dann muss der Staat als Ordnungshüter auftreten. So darf eine Nachbarschaft nicht einmal selbst entscheiden, was auf der eigenen Straße passiert.

Wenn die Marktwirtschaft und dieser zentralistische Staat unsere Gesellschaft in die multiple Krise geführt haben, dann brauchen wir eine andere Wirtschaft und eine andere Governance, um diese Krise zu überwinden. Wie wäre es zum Beispiel mit einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft, die auf Reziprozität und Redistribution basiert statt auf Profitmaximierung? Neben der privaten und öffentlichen Verwaltung bietet die kollektive Selbstverwaltung von Gemeingütern (Commons) eine dritte Möglichkeit. Man kann die staatlichen Strukturen auch dezentralisieren, sodass die Quartiersräte, die Kommunen und die Regionen die stärksten Institutionen darstellen. Doch ein solcher Weg setzt ein anderes Menschenbild voraus. Einerseits braucht es mehr Vertrauen und Großzügigkeit zwischen den Bürger:innen, um eine Kooperation in der Vielfalt und weltoffene Gemeinschaften zu ermöglichen. Andererseits braucht es mehr Vertrauen und Großzügigkeit in den öffentlichen Institutionen, um Bürgermacht zuzulassen.

Ein nachhaltiger Lebensstil kann – je nach Ansatz – teuer werden. Wie kann Nachhaltigkeit für alle zugänglich werden?

Wir sollten begreifen, dass ein nicht-nachhaltiger Lebensstil noch viel teurer ist, doch meistens lassen wir die anderen den hohen Preis dafür zahlen: die indigenen Völker, die unteren Schichten, unsere Kinder, dazu die nichtmenschlichen Wesen. Wie kommen wir also zur Nachhaltigkeit?

Zuerst durch eine »Befreiung vom Überfluss« (Paech 2012). Muss man von Köln nach Berlin oder von Bologna nach Neapel fliegen dürfen – oder sind das nur exklusive Statussymbole? Ist ein SUV wirklich ein Menschenrecht? Muss man fünf Millionen Euro pro Jahr verdienen dürfen, während viele Schulen in einem maroden Zustand sind und Menschen an Armut leiden?

Zweitens indem wir das Verhältnis zwischen Selbstversorgung und Fremdversorgung neu justieren. Der internationale Handel muss den lokalen ergänzen, nicht ersetzen. Wir brauchen mehr Regionalität statt Globalität. Regionale Wirtschaftskreisläufe können sich auf Parallelwährungen stützen. Regionalisierung bedeutet auch eine Diversifizierung und Dezentralisierung der Produktion: keine Großkonzerne mehr, sondern viele kleine Betriebe.

Drittens benötigen wir mehr öffentliche und gemeinschaftliche Daseinsvorsorge statt Privatvorsorge. Dies sollte durch eine strukturelle Umverteilung des Reichtums und die Schließung der Steuerparadiese finanziert werden. Von einer starken sozialen Grundsicherung profitieren alle, denn keiner muss dann Angst vor dem sozialen Abstieg haben. Eine starke ÖPNV-Infrastruktur ist preiswerter und ökologischer als der private Autobesitz (viele Fahrzeuge sind sowieso vor allem Stehzeuge). In Wien ist ein großer Teil der Wohnungen in genossenschaftlicher und öffentlicher Hand – und dies macht die Stadt noch lebenswerter. Da, wo mehr geteilt wird, ist das Wohlbefinden höher und der Naturverbrauch niedriger.

Viertens: Wer ökonomische, soziale und ökologische Kosten verursacht, muss selbst dafür haften. Diese Kosten dürfen nicht mehr subventioniert, sozialisiert oder externalisiert werden. Es braucht eine demokratische Kontrolle der Märkte statt eine Kontrolle der Demokratie durch die Märkte.

Fünftens: Es geht bei Nachhaltigkeit um die Frage, wer die gesellschaftliche Entwicklung für wen bestimmt. Wer macht die Wirtschaft für wen? Wer baut in den Städten für wen? Es braucht eine Demokratisierung der Demokratie, zum Beispiel mehr Subsidiarität und Autonomie im Lokalen. Die Menschen müssen die Möglichkeit bekommen, die Probleme dort zu lösen, wo diese auftreten.

Design oder Desaster? Worauf »steuern« wir als Bevölkerung des globalen Nordens zu? Warum?

Im Moment steuern wir eindeutig auf das Desaster zu, das zeigen auch die militärischen Konflikte und die neue Militarisierung des Denkens. Das große Problem ist die Alternativlosigkeit der Kultur, die sich durch die neoliberale Globalisierung universalisiert hat. Monokulturen erhöhen die Krisenanfälligkeit von Systemen, weil darin selbst die Ursachen der Probleme als Lösung verpackt werden. In Deutschland trägt das Programm der neuen Bundesregierung den Titel »Mehr Fortschritt wagen«: mehr Elektroautos, mehr Windräder, mehr Bahn und mehr Digitalisierung. Das Wort »weniger« kommt in den 144 Seiten des Regierungsprogramms lediglich zwei Mal vor. Der Fortschritt ist jedoch auch eine Ursache der multiplen Krise, wie kann er dann die Lösung sein?

Man kann keine Nachhaltigkeit erreichen, ohne die Nicht-Nachhaltigkeit loszulassen. Alle Zutaten für eine Transformation zur Nachhaltigkeit sind da, es braucht nur den passenden Katalysator, um sie neu zu mischen und zu aktivieren.

© Dr. Davide Brocchi, 16.2.2023
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Lektorat: Annette Schwindt, Bonn

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