Nachhaltigkeit braucht mehr Soziokultur

Zwischen 2018 und 2020 wurden beim Forschungsprojekt »Nachhaltigkeitskultur entwickeln« des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim Wege untersucht, Nachhaltigkeit in soziokulturellen Zentren zu etablieren. Doch ein weiterer Ansatz birgt große Potenziale für die Transformation der Gesellschaft und die Stärkung der Soziokultur.

Wie unterscheiden sich diese beiden Ansätze, Nachhaltigkeit in der Soziokultur und Nachhaltigkeit durch die Soziokultur?

Nachhaltigkeit in der Soziokultur

Hier werden konventionelle Verständnisweisen von Nachhaltigkeit auf die Soziokultur übertragen. Zum einen geht es um die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung (institutionelles Verständnis), zum anderen um den Einklang von Ökologie und Ökonomie (enges Verständnis). Bei diesem Ansatz stehen die Defizite der Soziokultur im Vordergrund. So können 80 Prozent der soziokulturellen Zentren keine Ressourcenverbrauchsziele oder einen Verantwortlichen für Nachhaltigkeit benennen. Im Programm der Mehrheit der Kultureinrichtungen spielte Nachhaltigkeit bisher kaum eine Rolle (Bundesverband Soziokultur 2019). Entsprechend bedarf es einer Art »ökologischer Modernisierung« der Soziokultur, die durch eine kompetente Fachberatung unterstützt werden kann. Dabei wird die Soziokultur als Betrieb behandelt, der im Sinne der Nachhaltigkeit optimiert werden soll. So fokussierte sich das Hildesheimer Forschungsprojekt »auf eine Veränderung der Managementpraktiken in Richtung Nachhaltigkeit« (Gruber/Brocchi 2019: 26). Nachhaltigkeit ist hier eine Ressortsaufgabe. In soziokulturellen Zentren ist meistens eine Person oder eine Arbeitsgruppe dafür zuständig.

Einerseits bietet dieser Ansatz Orientierung und eine effiziente Vorgehensweise. Viele Entscheidungen erübrigen sich, wenn Ziele, Indikatoren, Strategien und Maßnahmen klar benannt und implizit vorgegeben werden – auf Basis einer qualifizierten Fachexpertise. Der »Deutsche Nachhaltigkeitskodex für Unternehmen« aus dem Jahr 2011 stellte eine gute Vorlage für den »Nachhaltigkeitskodex für die Soziokultur« im Jahr 2020 dar. Bei soziokulturellen Zentren sind folgende Handlungsfelder von Bedeutung: Veranstaltungsort, Mobilität, Kommunikation, Catering, Logistik, Abfall/Wasser und CO2-Bilanz. Durch den Einsatz von LED-Beleuchtung können Kultureinrichtungen Strom sparen und einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Die Gastronomie kann mit regionalen Produkten beliefert werden. Wenn die Soziokultur zum Vorbild der Nachhaltigkeit wird, dann kann sie die Millionen Besucher:innen dafür sensibilisieren, die ihr Programm jährlich in Anspruch nehmen.

Andererseits wird diese Nachhaltigkeit als zusätzliche Managementaufgabe neben dem Normalbetrieb begriffen. Für Kultureinrichtungen, die unter Ressourcenknappheit und hoher Personalfluktuation leiden, ist das eine Herausforderung. Wie kann diese gemeistert werden? Dazu liefert der Ansatz eine doppelte Antwort. Die erste orientiert sich am Markt. In der Wirtschaft gestaltet sich Nachhaltigkeit meistens als »freiwillige Selbstverpflichtung«, denn Unternehmen müssen wettbewerbsfähig bleiben und eine zu starke Regulierung widerspricht den Prinzipien der Marktwirtschaft. Konzerne können durch »Nachhaltigkeitsberichte« das eigene Handeln transparent machen, so dass die Öffentlichkeit darüber urteilen kann. Ein solches Verfahren schlägt der »Nachhaltigkeitskodex« auch für die Soziokultur vor. Die Freiwilligkeit wird dem Wesen von Kunst und Kultur genau so gerecht wie jenem der Marktwirtschaft. Die zweite Antwort orientiert sich am Staat. Wenn Nachhaltigkeit eine zusätzliche Belastung für den Kulturbetrieb bedeutet, dann erfordert ihre Umsetzung eine stärkere öffentliche Kulturförderung. So wird der Klimaschutz auch in der Kulturpolitik monetarisiert. In Phasen der Rezession müssen Staaten bekanntlich sparen. Ist Klimaschutz also nur mit Wirtschaftswachstum zu haben?

Nachhaltigkeit durch Soziokultur

Hier liefert die Soziokultur eigene Impulse in den öffentlichen Diskursen, statt Konzepte und Programme unkritisch zu übernehmen. Wenn Probleme niemals mit derselben Denkweise gelöst werden können, durch die sie entstanden sind, dann bedeutet Nachhaltigkeit einen Kulturwandel, unter anderem eine geistige Emanzipation vom Wachstumsdogma. Gefragt sind nicht nur ein erweitertes Verständnis von Kunst und Kultur, sondern auch von Nachhaltigkeit: Sie ist ein Dachbegriff für »Visionen einer anderen Entwicklung« (Dag Hammarskjöld Foundation 1975; Tarozzi 1990). Nachhaltigkeit wird hier nicht als Managementaufgabe neben anderen begriffen, sondern als systemische Aufgabe: eine soziale und kulturelle Aufgabe. Nachhaltigkeit ist nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart. Sie erfordert nicht nur Innovation, sondern auch Bewahrung. Dabei geht es nicht nur um »moderne Hochkultur«, sondern auch um manche alten Traditionen: Sie können Umweltschutz, Fairness, Qualität und Genuss besonders gut verbinden, das zeigt die Slow Food-Bewegung. Nachhaltigkeit muss nicht unbedingt erfunden werden: Man kann auch von indigenen Völkern, von Städten wie Kopenhagen oder von Subkulturen (z. B. Urban-Gardening-Initiativen) viel lernen.

Die Soziokultur selbst kann an eine eigene lehrreiche Tradition der Transformation anknüpfen. In den 1970ern und 1980ern fand eine kollektive Selbstermächtigung statt. Alte Betriebe wurden besetzt und vor dem Abriss gerettet. So die Schuhfabrik in Ahlen 1984. An ihrer Stelle hätte ein Parkhaus gebaut werden sollen. Es waren damals Bürgerinitiativen, die Tempel der Industrialisierung in Orte der »Kultur von allen für alle« umwandelten (Staal 2021). Während in der modernen Stadtentwicklung Räume entweder privat oder öffentlich sind, zeigte die Soziokultur, wie Räume als Gemeingut von den Nutzer:innen selbst eingerichtet und verwaltet werden können. Wenn Nachhaltigkeit mehr Gemeinwesen statt Privatwesen bedeutet, dann ist die Soziokultur Ausdruck einer Kultur des Gemeinwesens. Für die Krisenresistenz sozialer Systeme ist die kulturelle Vielfalt genau so wichtig, wie die Biodiversität für das ökologische Gleichgewicht (UNESCO 2001). Städte sind resilienter, wenn sie Freiräume für Vielfalt zulassen. Auch in der Soziokultur kann ein Stück Zukunftsfähigkeit vorgelebt werden, zum Beispiel in Form von Repair-Cafés und von Tauschringen.

In der Transformation zur Nachhaltigkeit ist der Weg das eigentliche Ziel. So können soziokulturelle Zentren erweiterte Agoren in urbanen Quartieren und Gemeinden bilden, in denen Demokratie gelebt und weiterentwickelt wird. Anders als in der altgriechischen Agora sollte die soziokulturelle Agora jedoch inklusiv sein: Raumöffner:innen und Brückebauer:innen sind heute gefragter als Raumbesetzer:innen. In der Soziokultur ist der Generationswechsel die Möglichkeit, ein Stück Ownership abzugeben, so dass sich weitere Kreise damit identifizieren können. Durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden können die Wahrnehmungshorizonte der Demokratie erweitert werden, so dass ein gutes Leben ermöglicht wird, das nicht auf Kosten anderer geht, künftige Generationen inbegriffen. Während die Soziokultur immer noch sehr urban wirkt, erfordert Nachhaltigkeit eine Agora, auf der auch die Natur einen Platz hat (Latour 2015).

In den soziokulturellen Zentren können neue Allianzen entstehen, zum Beispiel zwischen Kulturakteuren, sozialen Bewegungen (Fridays for Future …), regionaler Ökonomie (SoLaWi…) und Nachbarschaften (Brocchi 2021). Solche lokalen Bündnisse können sich zur Transformation selbstermächtigen und diese Stück für Stück in Quartieren und Gemeinden durch- und umsetzen. Darin können neue Formen von Ökonomie ermöglicht werden. In was für eine Stadt wollen wir leben? Wem gehört die Stadt? Wie wollen wir im Quartier zusammenleben? Unter solchen Fragestellungen lassen sich viele Themen miteinander verknüpfen. Es geht darum, die Bürger:innen nicht nur als Kulturkonsument:innen anzusprechen, sondern als »Künstler:innen« zu aktivieren, die den eigenen Lebensraum als »soziale Plastik« mitgestalten (J. Beuys).

Nachhaltigkeit beginnt mit der Umgestaltung sozialer Beziehungen – und dies schon innerhalb der Soziokultur. In partizipativen und kooperativen Prozessen sind Vertrauen, Großzügigkeit, Augenhöhe und Lernorientierung entscheidend. Die Vielfalt, die man ansprechen will, muss in der Keimzelle der Transformation vertreten sein. Die Transformation kann durch neuartige Rituale gefördert werden. So werden am »Tag des guten Lebens« in KölnBerlin und Wuppertal mehrere Straßen von Autos befreit und dienen als Freiraum, in denen die Nachbarschaften selbstentwickelte Alternativen umsetzen und erleben können. Kommerz ist an diesem Tag untersagt, nur das Schenken und das miteinander Teilen sind erlaubt. Wenn Alternativen auf kollektiven Spielwiesen mitgestaltet und erlebt werden, dann ist ihre Überzeugungskraft stärker. Und was an einem Tag in einem Quartier möglich ist, kann das ganze Jahr in der ganzen Stadt möglich werden.

© Dr. Davide Brocchi, Köln. Dieser Text basiert auf dem Vortrag, der am 30. September 2022 beim Fachtag »Nachhaltigkeit in der Soziokultur« im Kulturzentrum Tollhaus Karlsruhe gehalten wurde. Veranstalter war die Landesarbeitsgemeinschaft der Kulturinitiativen und Soziokulturellen Zentren in Baden-Württemberg e. V.

Literatur
Weitere Blogtexte zum Thema

Bild: Stadt Ahlen, Bürgerzentrum Schuhfabrik. Lektorat: Annette Schwindt, Bonn.

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