Neue Rituale für die Transformation

Jede Gemeinschaftsform benötigt eine Art »Lagerfeuer«. Schon immer gehören Rituale zum menschlichen Zusammenleben dazu. Neuartige Rituale können auch einem sozial-ökologischen Wandel der Gesellschaft dienen.

Für die partizipationsorientierte Transformation zur Nachhaltigkeit ist ein Prinzip der Kommunikationspsychologie besonders relevant: Erst Beziehung, dann Inhalt. Wenn die Beziehung nicht stimmt, bringt die Arbeit an den Inhalten wenig. Ob sich Menschen wertgeschätzt fühlen oder nicht, hängt auch vom Medium ab. So schafft die Face-to-Face-Kommunikation mehr Vertrauen als unpersönliche Mailings. Doch Rituale sind für die Pflege von Beziehungen besonders effektiv. Sie bilden Strategien der Reduktion sozialer Komplexität, fördern das Vertrauen und stärken den Zusammenhalt an der Basis der Gesellschaft. Um vorangetrieben zu werden, benötigt die Transformation neue Rituale. Damit können weltoffene Gemeinschaften gepflegt und unkonventionelle Allianzen ermöglicht werden. Neue Rituale zeichnen sich durch folgende Merkmale aus:

  • Mitgestalten statt konsumieren. Bei neuen Ritualen werden die Koproduktion und die »soziale Plastik« (Joseph Beuys) geübt. Die Stadt wird nicht konsumiert, sondern mitgestaltet. So können die Bewohner*innen beim jährlich stattfindenden »Tag des guten Lebens« in Köln und Berlin das eigene Quartier umwandeln und Selbstwirksamkeit erfahren (Brocchi 2017). Gemeinsam sind sie Subjekte statt Objekte der Politik.
  • Unkommerzialität. Normalerweise wird die unentgeltliche »Schenkökonomie« (M. Mauss) nur in der Familie, in der Verwandtschaft und im Freundeskreis praktiziert, das heißt dort, wo Vertrauen herrscht. Diese Form von Ökonomie zielt nicht auf die Profitmaximierung ab, sondern basiert auf Reziprozität und Redistribution. In der Schenkökonomie kommt nicht der »Homo oeconomicus« zum Ausdruck, sondern der »Homo solidaricus«. Entsprechend erziehen neue Rituale die Beteiligten. Sie erweitern den Kreis, in dem unentgeltliche Formen von Ökonomie praktiziert werden und das Sozialkapital gepflegt wird. So darf am »Tag des guten Lebens« in der Nachbarschaft nichts verkauft und nichts gekauft werden, nur das miteinander Teilen und das Schenken sind erlaubt. Dadurch entsteht eine Atmosphäre des Vertrauens und der Großzügigkeit, die über den Tag hinaus wirkt.
  • Demokratisch und inklusiv. Wenn sich Menschen vor allem mit Dingen identifizieren, die sie mitbestimmen, dann sollten sie selbst entscheiden dürfen, wie ihr gemeinsames Ritual heißen soll und wie es ausgeführt wird. In einem urbanen Viertel haben ältere und jüngere Menschen, Frauen und Männer, Auto- und Radfahrer*innen, Akademiker*innen und Arbeiter*innen sowie Menschen mit und ohne Migrationshintergrund oder Behinderung unterschiedliche Vorstellungen vom guten Leben. Wie kommt eine heterogene Nachbarschaft zu einer gemeinsamen Definition von Gemeinwohl im Quartier? Demokratie will schon vor der Haustür gelernt werden. Genau das passiert im Vorfeld des »Tags des guten Lebens«. Jede Nachbarschaft bekommt die Möglichkeit, ein Programm für die eigene Straße demokratisch und möglichst inklusiv auszuarbeiten. Am »Tag des guten Lebens« wird so ein ganzer Stadtteil von den Nachbarschaften regiert. Und was an einem Tag möglich ist, ist das ganze Jahr möglich. So ist der Weg zum neuen Ritual das eigentliche Ziel.
  • Umdeutung und Umfunktionierung von Räumen. Bei neuen Ritualen werden private und/oder öffentliche Räume in Gemeingüter umgewandelt. Im »Quartier als Wohngemeinschaft« entstehen so »nachbarschaftliche Wohnzimmer« und »erweiterte Agoren«, auf denen sowohl menschliche als auch nichtmenschliche Wesen einen Platz haben. Am Kölner »Tag des guten Lebens« gehören zwischen 15 und 30 Straßen den Menschen statt den Autos. Unter freiem Himmel wird gemeinsam gefrühstückt, Kinder können frei spielen, im öffentlichen Raum finden politische Debatten statt. Beim »Restaurant Day« in Wuppertal-Arrenberg sind es hingegen die Wohnzimmer von Privatwohnungen, die in Restaurants für die Nachbarschaft umgewandelt, und in denen von den jeweiligen Gastgebern gekocht wird. Auch Naturräume eignen sich für neue Rituale, dafür steht zum Beispiel die »University of the Trees« der Künstlerin Shelley Sacks.
  • Spielwiese für Alternativen. Bei neuen Ritualen werden selbst entwickelte Alternativen gemeinsam erprobt und weiterentwickelt. Was körperlich erfahren wird, stellt eine intensivere Lernerfahrung dar als ein rein kognitiver Austausch. So erfahren die Menschen am »Tag des guten Lebens«, dass gutes Leben deutlich mehr sein kann als ein kommerzielles Straßenfest und ein Flohmarkt: Selbst Ruhe hat einen Mehrwert. Durch neue Rituale können auch Partnerschaften zwischen urbanen Quartieren und ländlichen Gemeinden gepflegt werden. Weil viele Menschen verlernt haben, wirklich frei und kreativ zu sein, können Künstler*innen einbezogen werden, um die geistigen Möglichkeitsräume zu erweitern.
  • Neue Allianzen als Träger und Ermöglicher. Auch eine systemische Bewegung braucht neue Rituale, um zusammengehalten, erweitert und wirksam zu werden. Eine vielfältige Bevölkerung lässt sich am besten durch Vielfalt ansprechen und aktivieren, entsprechend bunt sollten die Bündnisse sein, die neue Rituale tragen. Wenn es kein gutes Leben auf Kosten anderer geben kann, dann stellen Bündnisse eine Brücke zwischen lokaler Gemeinschaft und globaler Verantwortung dar. In Köln ist so ein breites, buntes lokales Bündnis aus 160 Organisationen entstanden, das den »Tag des guten Lebens« trägt und durch dieses Ritual die Stadt transformiert. Zur »Agora Köln« gehören unter anderem Umweltinitiativen, Kirchen, Theater, Künstlerhäuser, Schulen und lokale Unternehmen. Das Bündnis sorgt für Augenhöhe zwischen den Nachbarschaften und den Kommunalinstitutionen, dient als Vermittler und Puffer. Da die Bezirksvertretungen dem »Tag des guten Lebens« zustimmen müssen (um den nötigen Gestaltungsraum für die Nachbarschaften verfügbar zu machen) und die Stadtverwaltung die Realisation unterstützt, ist der »Tag des guten Lebens« das Produkt eines Citizen-Public-Partnerships.

© Dr. Davide Brocchi, 20.11.2022. Der Text basiert auf dem Vortrag, der am 18.11.2022 im Rahmen der Konferenz »Commons-Public-Partnerships und ihr Potenzial für dezentrale sozial-ökologische Transformationen« im IASS Potsdam gehalten wurde. Er ist im Buch »By Disaster or by Design? Transformative Kulturpolitik: Von der multiplen Krise zur systemischen Nachhaltigkeit« (2022) erschienen.

 

Zum Thema

 

 


Bild aus dem Film »Amarcord« von Federico Fellini (Italien, 1973).

 

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