Wenn Beziehung vor Inhalt in der Nachhaltigkeitstransformation kommt, dann sind Rituale eine sehr ursprüngliche Strategie des Beziehungsaufbaus und der Beziehungspflege. Rituale haben jedoch nicht nur eine positive Wirkung in der Gesellschaft, denn auch Ideologien und Herrschaftsverhältnisse können sich darauf stützen. Rituale können auch die Form von nicht-nachhaltigen Praktiken haben, wie zum Beispiel »verkaufsoffene Sonntage«, die den Massenkonsum fördern. Deshalb werden neuartige Rituale benötigt.
Neuartige Rituale können die Transformation zur Nachhaltigkeit vorantreiben, wenn sie folgende Aspekte kombinieren:
Kokreation und Prosumtion
Schon innerhalb einer Straße herrschen unterschiedliche Vorstellungen vom guten Leben. Wie kommt eine heterogene Nachbarschaft also zu einer gemeinsamen Vision davon? Demokratie will schon vor der Haustür gelernt werden, indem man nicht »unter sich« bleibt, sondern sich auch mit den Anderen auseinandersetzt. Genau das passiert im Vorfeld des »Tags des guten Lebens«. Jede Nachbarschaft bekommt die Möglichkeit, ein Programm für die eigene Straße kokreativ und möglichst inklusiv auszuarbeiten. Am Kölner und Berliner »Tag des guten Lebens« wird das Programm von der Nachbarschaft erlebbar umgesetzt. Dabei sind die Bewohner*innen Subjekte statt Objekte der Politik und erfahren kollektive Selbstwirksamkeit (Brocchi 2017). Während sich konventionelle Rituale durch die Separation der Rollen auszeichnen (z. B. Veranstalter*innen vs. Besucher*innen), sind am »Tag des guten Lebens« die Menschen gleichzeitig Produzenten und Konsumenten, also »Prosumenten« (Toffler 1983) des guten Lebens.
Raum als Gemeingut
Neuartige Rituale finden in Räumen statt, die durch Rückeroberung, Umdeutung und/oder Umfunktionierung in ein Gemeingut umgewandelt werden. Dadurch wirken sie als Identifikationselement (Totem) in der Vielfalt. So wird am Kölner »Tag des guten Lebens« ein ganzes Quartier zum Gemeingut (»unser Veedel«). 15 bis 30 Straßen gehören dann den Menschen statt den Autos – und werden von der jeweiligen Nachbarschaft als »Soziale Plastik« (Joseph Beuys) im Sinne des guten Lebens umgestaltet. Unter freiem Himmel wird gemeinsam gefrühstückt, Kinder können frei spielen, im öffentlichen Raum finden politische Debatten statt. Beim »Restaurant Day« in Wuppertal-Arrenberg sind es hingegen die Wohnzimmer von Privatwohnungen, die in Restaurants für die Nachbarschaft umgewandelt werden (Brocchi 2019, S. 64, 118). Auch Naturräume eignen sich für neuartige Rituale. Dafür steht zum Beispiel die »University of the Trees« der Künstlerin Shelley Sacks.
Unkommerzialität und Schenkökonomie
Bei neuartigen Ritualen darf nichts verkauft und nichts gekauft werden, nur das miteinander Teilen und das Schenken sind erlaubt. Die »Schenkökonomie« (Mauss 2019), die in jeder Familie selbstverständlich ist, wird so auf andere Kreise erweitert. Am »Tag des guten Lebens« ist die geltende Währung Vertrauen statt Euro. Wenn Kaffee und Kuchen geteilt statt verkauft werden, dann ermöglicht dies auch ärmeren Menschen die Teilhabe. Auch dadurch wirken neuartige Rituale besonders inklusiv.
Befreiung vom Überfluss und digitalfreie Zone
In modernen Gesellschaften sind gerade Rituale ein Moment der Verschwendung. So werden zahlreiche Bäume für Weihnachten oder den »Tanz in den Mai« geopfert. Für die üppigen Osteressen werden noch mehr Tiere als sonst geschlachtet. Beim Kölner Karneval zeigt sich die Verschwendung durch Unmengen von Müll, die auf den Straßen zurückbleiben. Neuartige Rituale zeichnen sich hingegen durch eine »Befreiung vom Überfluss« (Paech 2012) aus. Hier muss nicht unbedingt etwas getan werden: Auch Ruhe hat einen Mehrwert. Neuartige Rituale sind Ausdruck von Empathie statt eines Wohlstands auf Kosten anderer. Im Mittelpunkt stehen hier die Sinnlichkeit, das Wohlbefinden und die Naturverbundenheit – und nicht in etwa Smartphones. Idealerweise sollten neuartige Rituale eine digitalfreie Zone bilden.
Bündnisse und neue Allianzen
Neuartige Rituale werden durch neue Allianzen ermöglicht und getragen. In Köln gründete sich 2012 das Bündnis »Agora Köln«, um den »Tag des guten Lebens« politisch durchzusetzen. Dazu gehören gegenwärtig circa 160 Organisationen wie Umweltinitiativen, Kirchen, Theater, Künstlerhäuser, Schulen und lokale Unternehmen. Ein buntes Bündnis kann eine heterogene Bevölkerung am besten ansprechen und aktivieren. Durch den Austausch mit anderen Akteuren können die Nachbarschaften die geistigen Horizonte erweitern, in denen sie das gute Leben definieren. Da die betroffenen Bezirksvertretungen dem jährlich stattfindenden »Tag des guten Lebens« zustimmen müssen (um den nötigen Gestaltungsraum für die Nachbarschaften verfügbar zu machen) und da die Stadtverwaltung die Realisation unterstützt, ist der »Tag des guten Lebens« das Produkt einer Citizen-Public-Partnership.
Wiederholung und Progression
Auch neuartige Rituale dienen als Spielwiese für nachhaltige Alternativen. Um zur Normalität zu sedimentieren, benötigen Alternativen jedoch die wiederholte Übung. Weil die regelmäßige Wiederholung zum Wesen von Ritualen gehört, eignen sie sich besonders gut für eine Transformation als Lernprozess. Was körperlich erfahren wird, hat einen intensiveren Lerneffekt als ein rein kognitiver Austausch. So stellen die Menschen am »Tag des guten Lebens« aus Eigenerfahrung fest, dass große Flächen im öffentlichen Raum deutlich sinnvoller genutzt werden können als zum Parken nicht genutzter Fahrzeuge. Da viele Menschen verlernt haben, wirklich frei und kreativ zu sein, können Künstler*innen einbezogen werden, um die geistigen Möglichkeitsräume des guten Lebens zu erweitern.
Doch neben der Wiederholung braucht die Transformation auch eine Progression. So wurde der »Tag des guten Lebens« ursprünglich als Katalysator einer progressiven Transformation der Stadt in Richtung Nachhaltigkeit konzipiert (Brocchi 2012). Dabei sollte das Ritual dazu dienen, jedes Jahr eine weitere dauerhafte Veränderung in der Stadt durch- bzw. umzusetzen. Indem jeder »Tag des guten Lebens« in einem anderen Stadtteil stattfindet, wird eine weitere Nachbarschaft aktiviert und angebunden, sodass die transformative Schlagkraft des Bündnisses immer weiter gestärkt wird. Eine Progression kann auch durch die zeitliche Ausdehnung des Rituals stattfinden. So wollte Dresden 2020 eine ganze »Woche des guten Lebens« realisieren. Während die bloße Wiederholung des Rituals zur Eventisierung führen oder die Motivation der Beteiligten sinken kann, schafft die Progression einen zusätzlichen Raum für Kreativität und Selbstwirksamkeit.
© Dr. Davide Brocchi, 30.4.2023
Literatur
- Brocchi, Davide (2012): Tag des guten Lebens – Kölner Sonntag der Nachhaltigkeit. Ideen für eine zukunftsfähige Stadt. Köln: Eigenverlag.
- Brocchi, Davide (2017): Urbane Transformation. Bad Homburg: VAS.
- Brocchi, Davide (2019): Große Transformation im Quartier. München: oekom.
- Mauss, Marcel (2019): Die Gabe. Berlin: Suhrkamp.
- Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss. München: oekom.
- Toffler, Alvin (1983): Die dritte Welle, Zukunftschance. Perspektiven für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. München: Goldmann.
Zum Thema
- Prinzipien der partizipationsorientierten Quartiersarbeit
- Orte des Widerstandes
- Mehr urbane Wildnis wagen
- Der Berliner »Tag des guten Lebens« als Prozess (2017-2020)
- Bundesinitiative zum »Tag des guten Lebens«
- Bundesweite ERDFEST-Initiative
Bild aus dem Film »Amarcord« von Federico Fellini (Italien, 1973).
Neueste Kommentare