Transformation nach menschlichem Maß

Fahrrad statt Auto? Wer die Mobilitätswende voranbringen möchte, sollte sie nicht auf eine technische Frage reduzieren. Zu einer menschengerechten Stadt kann nur eine menschengerechte Transformation führen.

Menschen sind physisch und kognitiv begrenzte Wesen: Von allzu großen Komplexitäten sind sie überfordert. Eine Erderwärmung von 4° C bis Ende des Jahrhunderts? Schon die Vorstellung gibt uns ein Gefühl der Ohnmacht. Was sich unangenehm anfühlt, wird oft lieber verdrängt. Um handlungsfähig zu bleiben, müssen wir die Komplexität herunterbrechen. Wenn das Globale und die Zukunft dem menschlichen Maß entspringen, dann kann die Transformation am besten aus dem Hier und Jetzt hervorgehen. Wie wäre es, wenn die Mobilitätswende direkt vor der eigenen Haustür beginnt? Der Weg aus der Ohnmacht führt durch die Selbstermächtigung und die Bildung einer kollektiven Kraft durch Kooperation. Genau das ist der Ansatz von Initiativen wie dem »Tag des guten Lebens«, der in Köln seit 2013 einmal jährlich stattfindet, seit 2020 auch in Berlin und seit 2021 in Wuppertal. Einerseits dient er als Katalysator in einer progressiven Transformation der Stadt in Richtung Nachhaltigkeit, die aus überschaubaren sozialräumlichen (von der Bewohnerschaft selbst definierten) Einheiten heraus vorangetrieben wird. Andererseits bildet der »Tag des guten Lebens« eine Spielwiese für jene neuen Allianzen, die die Transformation benötigt. Er wird aus einem breiten, bunten Bündnis getragen, das Akteure aus Umwelt, lokalem Gewerbe, Sozialem und Kultur miteinander vernetzt. Ermöglicht wird der »Tag des guten Lebens« durch eine Partnerschaft mit den Kommunalinstitutionen (public-citizen-partnership). 2012 brachte das Bündnis Agora Köln die Bezirksvertretung Ehrenfeld dazu, die Initiative einstimmig zu beschließen. Der erste »Tag des guten Lebens« konnte so am 15. September 2013 in einem Gebiet stattfinden, das von 22.000 Menschen bewohnt ist. An jenem Sonntag gehörten ganze 24 Straßen den Bürger/innen, während die Autos draußen bleiben mussten. Bis zu 3.000 Ersatzparkplätze wurden organisiert.

Menschen identifizieren sich viel mehr mit Prozessen, die sie selbst mitbestimmen dürfen, als mit Entscheidungen, die über ihre Köpfe hinweg getroffen werden. Deshalb sollte man die Bürger/innen nicht zur »Unterstützung« einladen, sondern zur Mitbestimmung und Mitgestaltung. In der Transformation ist der Weg das eigentliche Ziel. Dabei sind zwei Herausforderungen besonders wichtig: (a) die Kooperation zwischen unterschiedlichen Akteuren, so dass sie die eigene Stadt, das eigene Quartier und/oder die eigene Straße als Gemeingut (Common) betrachten und entsprechend nachhaltig behandeln. (b) das Verhältnis mit den Institutionen, denn sie sollten den Bürger/innen dienen statt umgekehrt und als Ermöglicher statt nur als Ordnungshüter auftreten.

Als Reallabor fördert der »Tag des guten Lebens« einen individuellen und kollektiven Lernprozess in Bezug auf beide Herausforderungen. Eine breitere Öffentlichkeit wird erreicht, indem die Frage der Mobilitätwende als Frage der Lebensqualität, des Zusammenlebens und der Demokratie gestellt wird. Schon lange im Voraus fördert der Tag als Gedankenspiel die Vorstellungskraft für Alternativen: »Stellt euch vor, ihr dürftet euer eigenes Quartier als Nachbarschaft regieren und hättet die Möglichkeit, die autofreien Straßen als Bühne für das gute Leben zu nutzen, was würdet ihr dann tun? Wie wäre es, wenn Autofahrer/innen und Radfahrer/innen, Kinder und Senioren, Einheimische und Migranten (u. a.) als gleichberechtigte Nachbar/innen bestimmen würden, wie die gemeinsame Straße genutzt wird? Weil dies das ganze Jahr lang nicht möglich ist, lasst uns mit einem Tag beginnen, einem Tag des guten Lebens«.

Ein Jahr lang hat die lokale Bewohnerschaft die Möglichkeit, ein eigenes Programm des guten Lebens möglichst demokratisch und inklusiv auszuarbeiten. Manche Quartiere brauchen länger, manche weniger. Einerseits können Quartiere sozialgemischt sein. Hier wirken die sozialen Ungleichheiten hemmend auf die Nachbarschaftsbildung und -pflege. Eine breite Partizipation kann nur dann zustande kommen, wenn die Multiplikator/innen, die in den verschiedenen Communities und Milieus Vertrauen verdienen, im Voraus als Mitgestalter/innen des Prozesses gewonnen werden. Die Vielfalt, die man ansprechen und aktivieren möchte, sollte schon im Keim der Transformation vertreten sein. Andererseits kann eine Bewohnerschaft sehr homogen sein, gerade wenn im Quartier eine soziale Entmischung stattgefunden hat (Gentrifizierung). Wenn Menschen »unter sich« bleiben, dann fehlt eine Auseinandersetzung mit fremden Perspektiven. Die Partnerschaft zwischen Nachbarschaften und multidimensionalen Bewegungen (Umwelt, Ökonomie, Soziales, Kultur) ist wichtig, um die geistigen Horizonte des Austausches zu erweitern. Nur wenn die globale Verantwortung und die Natur als Subjekt in demokratischen Prozessen vertreten sind, kann man zu einem guten Leben kommen, das nicht auf Kosten anderer geht.

Unabhängig von der Eigenart von Gemeinden und Quartieren sind für das Gelingen von Transformationsprozessen einige Prinzipien überall gültig:

  1. Kooperation und Demokratie setzen eine Augenhöhe voraus. Deshalb braucht es Mechanismen des sozialen Ausgleichs überall dort, wo es Ungleichheiten gibt. Menschen partizipieren, wenn ihre eigenen Belange einen Raum finden: Warum nicht Wohnpolitik, Bodenpolitik und Mobilitätspolitik miteinander verbinden? Besonders eine Atmosphäre des Vertrauens kann die Transformation enorm vereinfachen, diese kann jedoch nicht vorausgesetzt werden. Für die Vertrauensbildung und -pflege ist die persönliche Interaktion (Face-to-face-Kommunikation) fundamental. Sie fällt in kleineren Gruppen leichter als in großen, weshalb eine Dezentralisierung der Prozesse zu empfehlen ist. Da Selbstorganisation nur schwer von allein vonstatten geht, kann die soziale Komplexität durch inklusive Moderation und strukturierende Koordination auf eine für die Beteiligten erträgliche Form reduziert werden.
  2. Räume als Gemeingut (nachbarschaftliche Wohnzimmer, Gemeinschaftsgärten, Agoras…) können sich als starkes Identifikationselement in der Vielfalt auswirken und für eine Kontinuität in Partizipationsprozessen sorgen. Solche Räume sollten zum selbstverständlichen Teil der Stadtplanung bzw. der Infrastruktur werden. Sowohl Privaträume als auch öffentliche Räume können in Gemeingüter umgewandelt werden, die gemeinsam eingerichtet und verwaltet werden.
  3. Der Mensch ist mehr Gefühlswesen als Denkwesen, sagt die Psychologie. Deshalb ist ein gemeinsames Erleben und Gestalten viel inklusiver und intensiver als ein bloß darüber Reden. Der »Tag des guten Lebens« bietet eine gemeinsame Spielwiese für Erwachsene und für neue Allianzen, in der Alternativen auf den autofreien Straßen erlebbar werden. Die beteiligten Akteure erfahren kollektive Selbstwirksamkeit. Was an einem Tag möglich ist, kann das ganze Jahr lang möglich sein.
  4. Die Monetarisierung verändert die Motivation und dadurch den Charakter sozialer Prozesse stark. Deshalb darf am »Tag des guten Lebens« im öffentlichen Raum nichts verkauft und nichts gekauft werden. Nur das Schenken und das miteinander Teilen sind erlaubt. Die gültige Währung ist Vertrauen statt Euro.

De Weg zum »Tag des guten Lebens« begann in Köln mit einer einzigen Person: Dies beweist, dass jede/r von uns viel bewegen kann, wenn das miteinander Teilen (vor)gelebt wird. Im Prozess vor dem ersten »Tag des guten Lebens« waren in Köln 20-40 ehrenamtliche Aktive im Kern beteiligt, die in verschiedenen Arbeitsgruppen aufgeteilt waren: Tag des guten Lebens (Organisation und Zentralprogramm), Nachbarschaftsarbeit, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Bewegung und Vernetzung (Agora Köln), Kampagnenarbeit (im ersten Jahr »nachhaltige Mobilität«) sowie Finanzen und Ökonomie. Das Bündnis in Köln hat dafür gesorgt, dass die Kommunalinstitutionen den Gestaltungsraum für die Bürger/innen zulassen – zumindest für eine begrenzte Zeit in einem begrenzten Raum einmal pro Jahr. In Ländern wie der Schweiz ist die Möglichkeit der kollektiven Selbstorganisation und Selbstverwaltung im Lokalen selbstverständlicher, da das Subsidiaritätsprinzip konsequenter umgesetzt wird. In Deutschland muss sie hingegen noch hart erkämpft werden. In Dresden musste die »Woche des guten Lebens« 2021 deshalb abgesagt werden. Autogerechte Städte zeichnen sich durch autogerechte Institutionen aus, dabei ist die Transformation auch eine kulturelle Herausforderung. Der Erfolg des »Tags des guten Lebens« in Köln hat gezeigt, dass wertvolle Prozesse entstehen können, wenn man den Bürger/innen mehr zutraut und machen lässt. Der oft befürchtete Aufstand der Autofahrer/innen bleibt aus, weil auch sie Nachbar/innen sind, die einbezogen werden und gleichberechtigt mitgestalten dürfen.

© Davide Brocchi, 30.10.2021

Literatur

 

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