Partizipation zwischen Modernisierung und Nachhaltigkeit

Gegenwärtig befindet sich unsere Demokratie im Spannungsfeld zwischen zwei großen Transformationen. Die erste ist die kapitalistisch-industrielle (Modernisierung), die Karl Polanyi 1944 beschrieb und bis heute dominiert. Die zweite ist jene zur Nachhaltigkeit. Bürgerschaftliche Partizipation spielt in beiden Transformationen eine Rolle. Wie unterscheidet sich die Auffassung von Partizipation in der Modernisierung und in der Nachhaltigkeit? Warum ist Partizipation letztendlich eine Frage des Vertrauens?

Die Erfahrung der Migration durch verschiedene Siedlungsformen – von der ländlichen Dorfgemeinschaft am Fuße der Apenninen über die mittelalterliche Stadt Bologna bis zum autogerechten Köln – hat mein Bewusstsein für zwei wesentliche Zusammenhänge in der gesellschaftlichen Entwicklung geschärft:

Erstens. Der Umgang mit der Umwelt hängt von den innergesellschaftlichen Verhältnissen ab. Im ländlichen Dorf der 1970er Jahre hatten die Bewohner:innen nicht viel Geld, aber sie teilten viel miteinander. Und dort, wo die Menschen miteinander kooperieren, ist der Naturverbrauch niedriger. Andersherum ist es, wenn Menschen um Status konkurrieren. Wenn für die Fahrt von A nach B ein teurer SUV bevorzugt wird, dann, weil Transportmittel nicht nur eine Funktion haben, sondern auch Status ausdrücken – und Statusorientierung ist in maskulinen, ungleichen Gesellschaften besonders ausgeprägt.

Auf dem Land in Italien pflegten Produzenten, Händler und Konsumenten eine Ökonomie der Nähe. Landwirte, die ihre Verbraucher persönlich kennen, verwenden schon deshalb weniger Chemie. In einer globalisierten Wirtschaft, die auf Fremdversorgung basiert, herrscht hingegen Anonymität. Als Währung gilt Geld anstelle von Vertrauen. Die Profitorientierung ist dort besonders ausgeprägt, wo sich keine Empathie bilden kann.

Nachhaltigkeit beginnt mit der Umwandlung sozialer Beziehungen

Was lernen wir daraus? Wenn wir die Klimakrise überwinden wollen, dann reichen Elektroautos und Windräder nicht aus: Die sozialen und kulturellen Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft müssen geändert werden. So beginnt Nachhaltigkeit mit der Umwandlung sozialer Beziehungen. Sie benötigt mehr Gemeinwesen statt Privatwesen, mehr Kooperation statt Wettbewerb. Dies ist jedoch eine besondere Herausforderung für eine Gesellschaft, deren Mitglieder zu einem egoistischen »Homo oeconomicus« erzogen worden sind.

Zweitens. Räume und Infrastrukturen sind keine passiven Objekte, sondern prägen unser Zusammenleben und lenken im Alltag unser Verhalten. Auf den Punkt gebracht: »Erst gestalten wir unsere Gebäude und dann gestalten sie uns« (Winston Churchill). So erzieht eine autogerechte und kommerzgerechte Stadt autogerechte und kommerzgerechte Menschen. Wenn ein mentales Programm einbetoniert wird, dann kann er nicht mehr so leicht gewandelt werden und wirkt über Generationen hinaus.

Die zentrale Frage an dieser Stelle lautet: Wer bestimmt die gesellschaftliche Entwicklung für wen? In seinem Aufsatz »Neither Prince nor Merchant: Citizen« von 1986 schrieb Marc Nerfin, Gründer der International Foundation for Development Alternatives, dass bisher zwei Subjekte die Entwicklung der Gesellschaft vorgegeben haben: der Fürst (stellvertretend für den Staat und die politische Macht) und der Händler (sprich Markt und ökonomische Macht). Beide Subjekte haben die Gesellschaft zu einer Polykrise geführt und keine echte Lösung für die Weltprobleme bieten können. Eine alternative Entwicklung kann deshalb nur von einem anderen Subjekt angestoßen und vorangetrieben werden. Nerfin nannte es das »Dritte System«: »Im Gegensatz zur Macht des Staates und des Marktes gibt es eine unmittelbare und autonome Macht, manchmal offensichtlich, manchmal latent: die Macht der Menschen […]. Die Bürger:innen und ihre Vereinigungen bilden das Dritte System (wenn sie weder eine staatliche noch eine ökonomische Macht anstreben)«.

Heute verlaufen in unserer Gesellschaft zwei Transformationen parallel. Mal vermischen sie sich, mal bedrängt die eine die andere. Bisher dominierte die kapitalistisch-industrielle Transformation. Mit ihr befasste sich der Sozialanthropologe Karl Polanyi 1944 in seinem berühmten Werk »The Great Transformation«. Das Kulturprogramm, das sich darin realisiert, ist das der Modernisierung. Diese Entwicklung hat zu einer Polykrise geführt. Um den Kollaps der Zivilisation abzuwenden, zeichnet sich eine neue Große Transformation in der Gesellschaft ab: jene zur Nachhaltigkeit. Modernisierung und Nachhaltigkeit unterscheiden sich nicht nur im Transformationsdesign, sondern auch in ihrem Partizipationsverständnis.

Partizipation in der Modernisierung

Das Programm der Modernisierung basiert auf einer linearen Auffassung der menschlichen Geschichte: von einfachen, traditionellen zu modernen, komplexeren Gesellschaftsformen. An der Spitze dieses Fortschritts sieht sich die westliche Gesellschaft, sodass »Moderne« einer Selbstzuschreibung entspricht. Als Schlüssel zu höheren Entwicklungsstufen gilt Wirtschaftswachstum, wobei Wohlstand mit Massenkonsum gleichgesetzt und mit einem einzigen Indikator (Bruttoinlandprodukt) gemessen wird. Werden dabei ökologische und soziale Belange den ökonomischen geopfert? In der Modernisierung ist dies kein Grund zur Sorge, denn technologische Innovation und Marktmechanismen gelten hier als Allheilmittel gegen jegliches Problem. Dieses Entwicklungsmodell hat sich durch die Globalisierung universalisiert und so verkommt die Welt immer mehr zur Monokultur. Wenn es darum geht, eine strukturschwache Peripherie voranzubringen, wird die Tür für Investoren geöffnet und ein Einkaufszentrum gebaut. Denn »es gibt keine Alternative« (Margaret Thatcher) – so hieß es zumindest jahrzehntelang seitens der Politik. Welche Partizipation ist aber noch möglich, wenn Politik »alternativlos« ist?

Ein Vordenker der Modernisierung ist Platon. Der altgriechische Philosoph hielt nicht viel von Demokratie, denn für ihn war sie Ausdruck bloßer Meinungen. Seinen idealen Staat unterstellte er der Herrschaft der Philosophen, weil sie der »Vernunft« am nächsten standen und dadurch dem Zerfall der Gesellschaft entgegenwirken konnten. In der Moderne entspricht die Vernunft dem »objektive« Wissen der Wissenschaft. So ist aus der Philosophenherrschaft die Herrschaft der »Expert:innen« geworden. Dabei gibt eine Elite die Entwicklung vor, während die Masse der Laien belehrt wird. Der Staat wird als Ordnungsgarant (Bürokratie) benötigt, denn die Freiheit der Bürger wird seit Thomas Hobbes‘ Leviathan mit Anarchie gleichgesetzt. So darf eine Nachbarschaft nicht einmal die eigene Straße eigenständig verschönern, ohne mit Vorschriften und Auflagen konfrontiert zu werden.

Und doch findet Partizipation auch in modernen Gesellschaften statt. Denn eine repräsentative Demokratie ist auf Legitimation angewiesen, also auf »Public Relations«. So veranstalten die Institutionen Pressekonferenzen und öffentliche Veranstaltungen, um die Bürger:innen zu informieren. Neben Lobbys dürfen auch Quartiersräte und Bürgerräte die Politik beraten, denn sie haben nur eine konsultative Funktion. Über »Bürgerwerkstätten« wird gelegentlich Mitwirkung inszeniert, denn sie dürfen Stadtentwicklungskonzepte ausarbeiten – meistens jedoch in einem bereits festgelegten Rahmen. In der Bundesrepublik existieren auch Instrumente der direkten Demokratie (mit Ausnahme der Bundesebene). So sprachen sich bei einem Volksentscheid im September 2021 fast 60 Prozent der Berliner:innen für die Enteignung und Vergesellschaftung der Wohnungsbestände von Unternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen aus. Doch die meisten Parteien weigern sich bis heute diesen Schritt umzusetzen. Was die Politikwissenschaftler:innen Martin Gilens und Benjamin Page 2014 durch eine empirische Studie über die US-Demokratie belegten, könnte so auch für Deutschland gelten: »Wenn eine Mehrheit der Bürger mit den ökonomischen Eliten oder mit organisierten Interessen nicht einverstanden ist, dann verliert sie in der Regel«.

Partizipation in der Nachhaltigkeit

Zwischen 2008 und 2010 führten die Finanzkrise, das Scheitern des internationalen Klimaschutzprozesses in Kopenhagen und die Skandale um Großprojekte wie Stuttgart 21 zu einem radikalen Umdenken in der Nachhaltigkeitsdebatte. Denn es wurde deutlich, dass eine zentralistische Steuerung der Gesellschaft von oben nach unten Teil des Problems und nicht die Lösung sein kann. Der Weg, der in die Polykrise geführt hat, kann nicht jener sein, der uns herausholt.

So stieg »Transformation« zum zentralen Begriff der Nachhaltigkeitsdebatte auf. Er wurde aus den Politikwissenschaften importiert, wo Transformation Systemwechsel und Demokratisierungsprozess bedeutet. Genau dafür steht die Große Transformation zur Nachhaltigkeit, die der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU) 2011 in seinem Hauptgutachten skizzierte. Da eine Öko-Diktatur kein Ausweg aus der Umweltkrise sein kann, benötigt Nachhaltigkeit eine Stärkung der Demokratie, sprich der Bürger als Subjekt statt Objekt der Politik. Das miteinander Teilen und die Mitgestaltung (Kokreation) sind der Weg und zugleich das Ziel der Transformation. Doch Bürgermacht kann nur erlangt werden, wenn woanders Macht abgegeben wird. Um dies zu erreichen, sind in der Regel kollektive Bündnisse erforderlich. So bildeten sich nach der Zäsur zwischen 2008 und 2010 drei Bewegungen: Nach der Finanzkrise setzte sich die »Occupy Wall Street-Bewegung« für eine demokratische Kontrolle der Märkte ein. Die Wirtschaft sollte wieder in die Gesellschaft zurückgeholt werden und dem Gemeinwohl dienen, genauso wie von Polanyi 1944 gefordert. Nach dem Scheitern der Klimaverhandlungen 2009 in Kopenhagen internationalisierte sich die Transition Town-Bewegung, die wenige Jahre davor in Großbritannien entstanden war. Wenn eine Transformation zur Nachhaltigkeit nicht mehr von den Institutionen erwartet werden darf, dann müssen sich eben die Bürger selbst dazu ermächtigen – und zwar in jeder Stadt. Die Skandale um Großprojekte sowie die Auswirkungen der Liberalisierung der Immobilienwirtschaft führten zu einer dritten Bewegung, die die Frage stellte »Wem gehört die Stadt«. Ihre Forderung »Recht auf Stadt« bezog sich nicht nur auf die Möglichkeit der physischen Nutzung urbaner Räume (Recht auf Zentralität), sondern auch auf die Stadt als Ort der kreativen Schöpfung, der Kommunikation und des kulturellen Austauschs (Recht auf Differenz).

Diese Bewegungen traten in das demokratische Vakuum ein, das durch den Rückzug des Staates im Rahmen der neoliberalen Globalisierung entstanden war. Ohne eine übergeordnete Instanz, die in Interessenkonflikten vermittelt und für einen gerechten Ausgleich sorgt, kann die Willkür finanzstarker Interessen erst dort enden, wo sich die Bürger:innen organisieren und wehren. Diese Polarisierung hat die Städte zur Konfliktzone gemacht. So bildeten sich beispielweise 2010 die Bürgerinitiative Helios in Köln-Ehrenfeld und 2015 die Bürgerinitiative Viva Viktoria! im Bonner Viktoriaviertel, um jeweils den Bau eines Einkaufszentrums mitten im Quartier zu verhindern. Was aus der Sicht der Verwaltung und der Investoren brachliegende Flächen sind, können aus Sicht der Bevölkerung wichtige Orte des sozialen und kulturellen Lebens darstellen, die gegen die ökonomische Verwertungslogik geschützt werden sollten.

Nach 2008 wurde der Rückzug der Institutionen auch durch die öffentliche Verschuldung verstärkt. Weil leere Kassen die Kommunalverwaltung lähmen, entschieden manche Nachbarschaften die Entwicklung des eigenen Quartiers selbst in die Hand zu nehmen. So entstand in Wuppertal 2008 die Bürgerinitiative »Aufbruch am Arrenberg«. Im Laufe der Jahre hat sie den Arrenberg von sozialem Brennpunkt zum lebendigen Wohnort umgewandelt. Zudem ist der Stadtteil heute ein Modell der partizipativen Transformation zur Nachhaltigkeit, denn Bewohner und ansässige Unternehmer wollen ihn bis 2030 klimaneutral machen.

Citizen-Public-Partnerships statt Public-Private-Partnerships

Diese Beispiele zeigen, wie die Große Transformation aus dem Lokalen heraus vorangetrieben wird. Während die Modernisierung die Eigenart der Quartiere überspielt und das Lokale entwurzelt, entfaltet sich in der Nachhaltigkeit die Eigenart der Orte und der Nischen, indem die Entwicklung der Stadt von ihren Nutzern mitbestimmt und mitgestaltet wird. Denn in ihrer eigenen Lebenswelt sind die Bürger:innen selbst die Expert:innen. Während die Modernisierung auf eine Systemstabilisierung abzielt, verfolgt die Transformation zur Nachhaltigkeit eine Systemveränderung. Die Schwächen der Demokratie werden hier nicht kompensiert, vielmehr setzen sich breite Bewegungen für eine Stärkung der Demokratie ein. In Deutschland braucht es mehr direkte Demokratie und Subsidiarität, sprich starke Quartiersräte, Kommunen und Regionen – nach dem Vorbild der Schweiz. Nur eine dezentralisierte Verwaltung, die als Ermöglicher und nicht nur als Ordnungshüter wirkt, kann bürgernah sein. Während die neoliberale Globalisierung durch Public-Private-Partnerships getragen wurde, könnte die Transformation zur Nachhaltigkeit durch Citizen-Public-Partnerships vorangetrieben werden. So fordert der WBGU selbst einen »gestaltenden Staat mit erweiterter Partizipation«.

Eine Frage des Vertrauens

Die gegenwärtigen Krisen sind auch Ausdruck und gleichzeitig Verstärker einer tiefen Vertrauenskrise. Seit der Finanzkrise genießen »Wirtschaftsexperten« kein besonders hohes Ansehen mehr. Genauso vertrauen inzwischen nur noch 30 Prozent der Bundesbürger den Parteien, so der Eurobarometer. Vom tiefen Misstrauen profitieren ausgerechnet jene populistischen Kräfte, die die Demokratie weiter schwächen wollen. Umso dringender ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen Vertrauen wieder entstehen kann.

Zunächst erfordert eine Kultur des Vertrauens ein realistisches Menschenbild anstelle von Homo oeconomicus und Leviathans. Weil Vertrauen enttäuscht werden kann und Menschen als Kooperationswesen verletzbar sind, bilden Wertschätzung und Respekt unerlässliche Fundamente sozialer Vertrauensverhältnisse. Vertrauen kann weder in Einkaufszentren noch in den virtuellen Räumen von Social Media entstehen, sondern dort, wo Menschen persönlich miteinander interagieren können – sprich im Lokalen. Doch räumliche Nähe ist nicht automatisch soziale Nähe. Schon in einer Straße leben Menschen oft eher nebeneinander als miteinander. So will das Zusammenleben in der Vielfalt (Demokratie) schon in einer Nachbarschaft gelernt werden. Als Schulung können neuartige Rituale wie der »Tag des guten Lebens« in Köln, Berlin, Wuppertal und München dienen. Für den Zusammenhalt und die Kooperation sind jedoch Räume als Gemeingut mindestens genauso wichtig, sprich Räume, die durch Kollektive selbst eingerichtet und selbst verwaltet werden. So entstand die direkte Demokratie auf der Agora inmitten der altgriechischen Polis. Weil dieser Platz in der modernen Stadtplanung verschwunden ist, sollte er an möglichst vielen Orten zurückerobert werden. Während in Athen die Agora eine exklusive war, sollte sie heute eine erweiterte sein. Wenn es kein gutes Leben auf Kosten anderer geben kann, dann braucht eine demokratische Aushandlung des guten Lebens die Einbeziehung dieser anderen, künftige Generationen und nicht-menschliche Wesen inbegriffen.

© Dr. Davide Brocchi, 6.8.2023

 

Literatur

 

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Bild: Unabhängiger Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Wien 2014.

Lektorat: Annette Schwindt, Bonn

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